Die stille Revolution am Land
Covid- wie Klimakrise tragen dazu bei, dass das Leben im Dorf wieder attraktiver wird. Das sprengt so manches Vorurteil.
Quelle: Harald Tremmel / studio.mishugge.com
Unser Leben am Land ist von vielen vermeintlich fixen Annahmen geprägt : Wer am Land lebt, braucht ein eigenes Auto. Wer am Land lebt, hat schlechtere Bildungschancen – und die Gebildeteren dort haben schlechtere Chancen auf einen Arbeitsplatz. Dabei sind diese vermeintlichen Wahrheiten in vielen Regionen tatsächlich nur mehr das : Vorurteile, die viele LandbewohnerInnen bereits brechen.
Denn nicht alles, was eine geraume Zeitlang gegolten hat, muss auch weiterhin gelten. Marianne Penker, Professorin für Landsoziologie und Ländliche Entwicklung an der Universität für Bodenkultur in Wien, sah da zuletzt bei einer Veranstaltung des Ökosozialen Forums eine „stille Revolution“ in der westlichen Welt im Gange : Bei der Definition von Lebensqualität werden zunehmend auch soziale und ökologische Indikatoren miteinbezogen, nicht allein materielle Werte.
Auf dem Weg in eine weniger belastete Zukunft lohnt es sich deshalb, alte Einstellungen und Erzählungen zu hinterfragen. Die Pandemie hat dieses Hinterfragen auch befeuert : Corona war und ist etwa in Hinblick auf Stadt-Umland-Wanderungen eine „Entscheidungsbeschleunigerin“, wie der Geograph und Regionalberater Peter Görgl von der Universität Wien ebenfalls beim Ökosozialen Forum sagte. Manchmal braucht es aber keine Pandemie, manchmal reicht es schon, eine Schranke im Kopf zu öffnen, um neue Möglichkeiten überhaupt erkennen und anerkennen zu können.
Wir schauen uns ein paar dieser Vorurteile an – und Beispiele, die sie schon jetzt widerlegen :
„Am Land brauchst du ein Auto“
„Anfangs hab ich mich sehr gewundert, dass das Projekt LISA funktioniert“, sagt der Tullner Bürgermeister Peter Eisenschenk. LISA (die Abkürzung steht für „leicht, intelligent, sauber, attraktiv“) ist ein E-Shuttle-Service, das in der Region Tulln und Tullnerfeld abrufbar ist : „Vier Shuttles kreisen ständig herum, Fahrgäste müssen nur eine halbe Stunde vorher anrufen.“ Die FahrerInnen sind Freiwillige. In Tulln hat es bei einer Investition von drei Millionen Euro keinen Widerstand gegeben. Eine weitere LISA-Pilotregion liegt im Weinviertel : Dort kooperieren elf Gemeinden, um LISA als Carsharing-Konzept anzubieten. Zwischen Bad Pirawath und Pillichsdorf stehen dort die E-Fahrzeuge an vier Standorten zur Verfügung. Kostenpunkt : 3 Euro pro Stunde. So will man zu einer Philosophie hinkommen, die lautet : „Auto nutzen statt besitzen“.
„Am Land wohnst du im Einfamilienhaus“
Niederösterreich gilt auch als Häuslbauerland, rund zwei Drittel der BürgerInnen leben in einem Einfamilienhaus. Dennoch gibt es mittlerweile vielfältige andere Wohnformen. Die können verschiedene, auch überschneidende Vorteile haben : Es werden Leerstände aktiviert, Mehrgenerationenwohnen und Co-Housing stärken den sozialen Zusammenhalt, eine Grundversorgung (ob mit Infrastruktur, Heizung oder Einkaufsmöglichkeiten) ist so auch besser gegeben. So gibt es etwa das „Haus des Lebens“ in Ybbsitz mit 27 barrierefreien Wohnungen. Nicht nur SeniorInnen wohnen hier, sondern mehrere Generationen, auch junge Familien, Singles und Menschen mit Behinderung. Ebenfalls im Haus befindet sich eine Physiotherapiepraxis und die Caritas. Ein ähnliches Projekt gibt es in Grimmenstein, nahe des Wechsels. Hier ist im Haus mit dem „Grimmensteiner Storchennest“ auch eine Kleinkindbetreuung bis drei Jahre untergebracht.
„Am Land gibt’s keine höheren Bildungsangebote.“
An mittlerweile 13 Standorten gibt es in Niederösterreich Fachhochschulen und Universitäten : die theologischen Institute in Trumau, Heiligenkreuz und Krems, die New Design University in St. Pölten, das IMC Krems mit Fokus auf Gesundheitsberufe, die Donau-Universität Krems, die Fachhochschule Wiener Neustadt mit Schwerpunkt Wirtschaft und die Pädagogische Hochschule in Baden.
Prozent der Haushalte Personen die in Einfamilienhäusern wohnen, 2021: Ein Blick auf die Gebäudegröße nach Bundesländern lässt die Siedlungsstruktur in Österreich gut erkennen. Im Burgenland liegt der Anteil an Wohnungen in Einfamilienhäusern mit 68,5 % klar an der Spitze. Auch in Niederösterreich ist er mit 52,2 % deutlich über dem österreichischen Gesamtdurchschnitt von 32,9 %. Die österreichischen Durchschnittswerte zur Gebäudegröße werden durch Wien sehr stark beeinflusst. Dort liegen nur 8,1 % der Wohnungen in Ein- oder Zweifamilienhäusern, hingegen 79 % in Gebäuden mit zehn oder mehr Wohnungen.
Quelle: Statistik Austria
„Am Land gibt’s so viele ungenutzte Betriebsbrachen, deren Innovationspotenzial wird nicht gesehen.“
2009 schloss die Firma Semperit ihren Standort in Traiskirchen, über 100 Jahre lief dort die Produktion unter anderem von Reifen. Heute ist das Areal Nährboden für Neues : Im Gewerbepark Traiskirchen haben sich zahlreiche Unternehmen angesiedelt, mittlerweile arbeiten hier mehr Menschen als zu Semperit-Zeiten. Die Wirtschaftsagentur des Landes, ecoplus, kümmert sich deshalb besonders um die Nachnutzung von Betriebsbrachen und fördert diese auch. „Voraussetzung ist, dass die GrundstückseigentümerInnen an einer solchen interessiert sind“, sagt Andreas Kirisits vom ecoplus-Investorenservice. Sonst gehe gar nichts. Allerdings sind viele Betriebsgebiete in Niederösterreich ohnehin im Eigentum der Gemeinden. Ziel von ecoplus ist es interessante und attraktive Arbeitsplätze sowohl im sehr ländlichen Bereich zu schaffen, aber auch im Speckgürtel – damit nicht alle nach Wien pendeln müssen. Auch Lebensqualität, Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel, geringerer Bodenverbrauch und Klimaschutz sollen dabei mitbedacht werden. „Wir haben auch schon Projekte begleitet, wo Ortskerne revitalisiert wurden“, sagt Kirisits. Das Betriebsgebiet Hovengasse in Korneuburg wurde „klimafit“ gemacht, unter anderem durch einen neu gestalteten und beschatteten Fuß- und Radweg zum nahen Bahnhof. Wie so eine Neugestaltung einer Betriebsbrache aussehen kann, das lässt sich derzeit am ehemaligen Areal der Firma Laufen in Wilhelmsburg quasi live mitverfolgen : Die Produktion von Sanitärkeramik wurde 2020 hier eingestellt, nun bemüht sich das Unternehmen als Eigentümer gemeinsam mit der Gemeinde und ecoplus um eine sinnvolle Nachnutzung für das 8 Hektar große Areal. In einem ersten Schritt setzen sich derzeit 33 Architektur-Studierende der Technischen Universität Wien in Projektarbeiten damit auseinander, welche Potenziale der „Co-existenz“ (so der Projekttitel) sie im Gelände sehen.
Nachnutzung statt Neubau : Wie das Leerstehende wiederbeleben, welchen Zweck finden für das anscheinend Zwecklose? Aus diesen Fragestellungen ist seit dem Jahr 2017 auf dem Areal der ehemaligen Eybl-Textilwerke das Projekt Donau Gewerbepark Krems entstanden. Durch adaptive Wiederverwendung der vorhandenen Gebäudestruktur („adaptive re-use“) bestand die Möglichkeit, ein einmaliges Projekt in besonderer Lage zu entwickeln und eine ungenutzte Industriebrache wieder in einen lebendigen Ort für Menschen zu verwandeln – mit großer Geschichte, aber neuer Identität.
Quelle: ecoplus, 2022
„Am Land gibt’s keine kreativen Jobs.“
Durch die Digitalisierung (und Internationalisierung) des Arbeitsmarktes ist es heute in vielen Branchen möglich, an Orten weit entfernt vom Auftrag- oder Arbeitgeber zu arbeiten. Die Covid-Pandemie hat viel Unwägbarkeit und Mühsal mit sich gebracht, aber einen Vorteil hatte sie : Durch Corona ist es heute gesellschaftlich und betrieblich anerkannt, seine Arbeit vom Home-Office aus zu erledigen – oder aus dem Gemeinschaftsbüro, auch „Co-Working-Space“ genannt. Solche Räume gibt es in Niederösterreich etwa entlang der Eisenstraße : Um monatlich Euro 200 pro Platz kann man etwa im Töpperschloss/Schloss Neubruck bei Scheibbs arbeiten. Auch die Mostviertel Tourismus GmbH hat hier ihren Sitz. Eine ähnlich flexible Arbeitsplatz-Vermietung gibt es in Strengberg („Poststudios“), Waidhofen an der Ybbs („Beta-Campus“) und in Wieselburg („Ecospace“), wo die Selbstständigen auch eine Startup- oder Gründungsberatung erhalten.
Betrachtet man diese Beispiele, scheint es beinahe so, als wäre es angesichts der aktuellen Herausforderungen – ob Klima- oder Energiekrise, ob Covid-Pandemie – sinnvoll, einzelne Charaktereigenschaften der Stadt aufs Land zu holen : Das kann bedeuten, neu zu gründende Unternehmen oder Initiativen stärker auf Wissens-, kreativen und sozialen Netzwerken aufzubauen, neue kooperative Arbeits- und Wohnmodelle zu etablieren ; nachhaltigeren Lebensstil mit regionalen Lebensmitteln und alternativer Energie anzuregen. „Die Pandemie kann für findige Klein- und Mittelstädte durchaus einen Entwicklungsschub bringen“, sagt Geograph Görgl von der Uni Wien. Den Gemeinden möchte die Landsoziologin Penker mitgeben, bei allen Entwicklungsschritten ihre Perspektive zu weiten : dabei eben nicht nur ökonomische Faktoren in den Blick zu nehmen, sondern stets deren soziale und ökologische Auswirkungen mitzubedenken.
Denn eigentlich hat das Land der Stadt in vielen Bereichen schon einiges voraus. Manchmal braucht es nur einen Perspektivenwechsel, um Ortskerne wiederzubeleben oder zukunftsoffene Kulturinitiativen zu starten : vom Denken in „Problemräumen“ hin zu Potenzialräumen, vom Projektdenken hin zum Prozess, gemeinsam statt einsam und mit Blick Richtung Zukunft.
Service
ecoplus. Niederösterreichs Wirtschaftsagentur GmbH: Klimafitte Standortentwicklung und Betriebsgebietserneuerung, Unterstützung für Gemeinden und Betriebe bei Klimawandelanpassung und Ressourcenschonung, Brachflächenrecycling, Minimierung der Bodenversiegelung, Erhalt der Biodiversität, Stärken des Wirtschaftsstandortes. <strong>Klimafitte Standortentwicklung und Betriebsgebietserneuerung:</strong> RE USE und Brachflächenrecycling im Kontext bzw. als Beitrag zur Ortskernbelebung, ecoplus „Nachnutzungsberatung & Prozessbegleitung“ für großflächige industrielle Leerständen bzw. Brachflächen wie z. B. durchgeführt für :
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ecoplus. Niederösterreichs Wirtschaftsagentur GmbH
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