Nachhaltigkeit, Vorbild Land

„Wer geht voran ?“

Die Strategieexpertin Verena Ringler hat untersucht, was Leadership in unseren Zeiten ausmacht. Und wer in Niederösterreich das schon zeigt.

Portrait Verena Ringler

Quelle: Peter Mayr

Verena Ringler, Sie haben vergangenen Herbst eine Studie veröffentlicht : Im Dialog mit 50 EntscheidungsträgerInnen aus Niederösterreich, Tirol und Vorarlberg identifizierten Sie Kernbotschaften und Handlungsempfehlungen im Sinne des europäischen Green Deal (EGD). Darin wird vom „sensiblen Alpenraum“ gesprochen. Was meinen Sie damit ?

Der Klimawandel beeinträchtigt das Ökosystem des Alpenraumes stärker als andere Regionen : Der Lebensraum meldet quasi sehr rasch und unmittelbar zurück, wie stark er unter Druck steht – etwa durch den Rück­gang der Gletscher, durch das Verschwinden gefährdeter Arten. Es gilt daher, die Leistungen dieses Ökosystems zu erkennen und über Regulative sowie Bewusstseinsbildung viel stärker als bisher zu hüten : Ob es Bergwälder sind, die uns vor Lawinen schützen und unsere Atemluft reinigen, oder Flüsse und Almweiden, die uns mit Trinkwasser, Energie und Lebensmitteln versorgen, ob Biotope und Feuchtgebiete, die es unversiegelt zu halten gilt. Zu diesen Fragen arbeiten DiplomatInnen, ExpertInnen und ForscherInnen übrigens im Rahmen der internationalen Alpenkonvention mit Sitz in Innsbruck seit vielen Jahren zusammen.

Die Studie haben Sie in Partnerschaft mit dem Wiener Büro der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung vor der deutschen Bundestagswahl umgesetzt. Warum blickt eine deutsche Stiftung für so eine Sondierung nach Österreich ?

Große europäische Fahrpläne und Herausforderungen wie der EGD machen nicht an nationalen Grenzen halt. Uns hat interessiert, welche Fragen und Forderungen besonders aktive Persönlichkeiten abseits der Hauptstädte mit dem EGD verknüpfen. Ich habe 50 regionale Führungskräfte in Niederösterreich, Vorarlberg und Tirol identifiziert, jeweils bunte Grüppchen vom Landesrat bis zur Architektin, von der Unternehmerin bis zur Landwirtin. Aus Niederösterreich waren darunter etwa Roswitha Reisinger, Chefin des Lebensart-Verlages, der frühere Landesrat Josef Plank, die Gmünder Bürgermeisterin Helga Rosenmayer und Sonnentor-Chef Johannes Gutmann. Mit ihnen habe ich zuerst persönliche Interviews und dann gemeinsame Strategieabende durchgeführt. Sie erarbeiteten Prioritäten und Wünsche für ihr Bundesland, sie besannen sich auf die Erfahrungen und Erfolge, die sie mit Ostöffnung, EU-Beitritt oder der Hauptstadtwerdung St. Pöltens assoziieren.

Was kam dabei für Niederösterreich heraus ?

Unserer Erhebung zufolge hat das Bundesland bereits eine Art Vorreiterrolle in Österreich, in Sachen EGD voranzugehen, etwa bei der Energiewende. Denn hier lebt man eine aktive regionale Außen- und Europapolitik, hat viel Erfahrung mit EU-Programmen gesammelt und schätzt die serviceorientierte Landesverwaltung.

„Unserer Erhebung zufolge hat das Bundesland bereits eine Art Vorreiterrolle in Österreich, um in Sachen europäischer ‚Green Deal‘ voranzugehen.“

Und welche Prioritäten sahen die 15 befragten EntscheidungsträgerInnen in Ihrer Studie für Niederösterreich ?

Zuallererst eine EGD-Bildungs- und Forschungsoffensive, um für das Thema der Klimawende zu sensibilisieren. Als Priorität Nummer 2 identifizierten wir die Mobilitätswende und als Nummer 3 die Kreislaufwirtschaft und den Anspruch, stärker auf die regionale Landwirtschaft zu fokussieren.

Es ist in der Studie die Rede von einem „Mittelstand entlang des Alpenbogens“, der sehr veränderungsbereit ist und so zum „First Mover“ auf der europäischen Landkarte werden könnte. Was zeichnet die untersuchten Gebiete da aus, welche Qualitäten gibt es hier, die die Transformationsbereitschaft speisen ? 

Einstimmig unterstützen die befragten Führungskräfte folgende Hypothese : „Das Gelingen des EGD hängt von nicht-technischen wie technischen Innovationen und Transformationen gleichermaßen ab ; der Kulturwandel ist ein wesentlicher Aspekt.“ In dieser Aussage spiegelt sich wider, dass UnternehmerInnen im ruralen oder peripheren Umfeld sonnenklar ist : Ihre Verantwortung endet nicht an der Werkstür oder Bürotür. Außerhalb der Zentren finden wir tendenziell innovative, eigenständige UnternehmerInnen vor, die einerseits international handeln, andererseits geerdet und integriert sind in ihrem Dorf- und Vereinsleben. Der Eindruck ist : Sie interessieren sich weniger für die Gremien- und Lobbyarbeit in den Hauptstädten, sondern wollen konkrete Aktionen setzen und möglichst unbürokratisch Neues in die Welt bringen.

Illustration – Häuser am Land.

Quelle: Harald Tremmel / studio.mishugge.com

Welche Fähigkeiten oder Eigenschaften brauchen EntscheidungsträgerInnen in den Regionen ?

Das Wichtigste ist wohl eine Haltung, nämlich die, unsere Gesellschaft und Wirtschaft von ihren Möglichkeiten anstatt von ihren Grenzen her zu denken. Mut, Visionskraft und Offenheit gegenüber neuen Stimmen und Vorschlägen gehören da dazu. Und das Zweite ist die grundsätzliche Menschenliebe und die Fähigkeit zur Empathie. Tiefgreifende Spurwechsel wie jenen von der karbonisierten zur klimaneutralen Wirtschaft fädeln Menschen ein, nicht Maschinen. Der direkte menschliche Kontakt – nicht der in Online-Foren – ist das Gold des 21. Jahrhunderts. Es sind Menschen in unserem direkten Umfeld, die vorausblicken und zuhören, die Prozesse steuern und organisieren, die Interessenskonflikte austragen und neue Vorhaben zulassen. Beim EGD menschelt’s überall !

Illustration – Menschen im Gespräch.

Quelle: Harald Tremmel / studio.mishugge.com

Der Bürgermeister von Tulln, Peter Eisenschenk, identifizierte für seine Arbeit in der Praxis z. B. die Bereitschaft, die BürgerInnen in Entscheidungen einzubeziehen oder die Klimaagenda zur Chefsache zu machen. Damit scheint er gut unterwegs zu sein, oder ?

Die Erkenntnisse des Bürgermeisters decken sich mit jenen unserer Studie. Dort kam heraus, dass wir Innovation, Partizipation und Investitionen benötigen, um lokal und europäisch voranzukommen. Ob wir diese Erkenntnisse und Ergebnisse in Brüssel, Wien, Tulln oder Bregenz diskutieren – klar wird : der Weg zur Klimaneutralität ist keine Sache von „Öko-Bewegten“, nein : wir müssen ihn gemeinsam beschreiten. Und in Europa wollen wir das unbedingt demokratisch tun.

Wie und warum fanden Sie eigentlich zum Thema EGD auf regionaler Ebene ? Davor haben Sie als Tirolerin das Europaprogramm der deutschen Stiftung Mercator aufgebaut und waren für den Europäischen Rat im Kosovo.

Seit meiner Jugend in Innsbruck war ich fasziniert vom europäischen Gedanken und der Dichte an Kulturen und Sprachen grade mal ein bis zwei Reisestunden weiter. Ganz besonders fesselte mich dann die Wende 1989/91, also der Fall der Berliner Mauer und das Ende der Sowjetunion. Was machen solch massive Umbrüche mit Gesellschaften ? Und wie gehen Einzelne – egal ob Eltern oder EntscheiderIn­nen – mit diesen Umbrüchen um ? Als Journalistin für „profil“ und andere Magazine, als Wahlbeobachterin und später als Projektentwicklerin reiste ich oft Richtung Osten und in die Staaten des Westbalkans. Ich näherte mich „Europa“ von den Rändern her, von außen, wo man uns beneidet für unsere Straßenverkehrsordnung, die Sozialversicherung, die staatlichen Strukturen und die Herrschaft des Rechts. Dieses Umkreisen von außen ging dann an Orten wie Washington oder Pristina weiter. Am Tag der Heimkehr nach Innsbruck war für mich klar : Wer sich mit einem gemeinsamen Europa befasst, wer diesen klugen, krisenfesten Bauplan der Zusammenarbeit als kostbares Gut schätzt, der muss den Blick immer schon auf die Zukunft haben. Ich versuche also immer aktuelle Antworten auf die Frage zu finden : Welcher Umbruch steht nun für uns an, in unseren vergleichsweise satten und stabilen Gesellschaften ?

Da kam dann also die ökologische Ebene hinzu ?

Im Dezember 2019 hörte ich Ursula von der Leyens Präsentation des EGD in Madrid und da machte es Klick in meinem Kopf : Ich ahnte und vermutete, dass dieser Fahrplan der Dekarbonisierung unseres Wirtschaftskreislaufs und des konsequenten Naturschutzes quasi die „Mutter aller Umbrüche“ darstellen würde. Jetzt, heute und morgen für uns hier im vermeintlichen Zentrum Europas. Der Green Deal betrifft uns alle in unserem Alltag. In solchen Phasen geht es erstmal um Leadership. Im Dorf, in der Firma, im Pendlerbus : Wer geht voran, erklärt und klärt auf, begeistert viele um sich herum, ist bereit für den planvollen Kontrollverlust, küsst die Innovation wach und strahlt bei alledem Zuversicht aus ?

„Das Wichtigste ist wohl eine Haltung, nämlich die, unsere Gesellschaft und Wirtschaft von ihren Möglichkeiten anstatt von ihren Grenzen her zu denken.“

Sie haben am Schluss Ihrer Studie einen Neuanfang gewagt und den Verein AGORA European Green Deal gegründet. Welche Ziele verfolgen Sie damit ? 

Nach vielen Monaten des Fragens und Zuhörens war mir klar : Viele VordenkerInnen und GestalterInnen in unseren Gemeinden, Familien, Unternehmen möchten sich einbringen. Sie wissen aber nicht genau, wie, in welcher Form, mit wem. Ich gründete also die erste cross-sektorale Anlaufstelle für Gestal­terInnen der Klimawende. Anfang 2022 nahm unser gemeinnützig arbeitende Verein, die Agora, die Arbeit auf. Zu dem Namen inspirierte uns die „agora“, der Versammlungs- und Marktplatz im antiken Griechenland. Dort trafen Impulse, Ideen und Innovationen zusammen und es fand eine ständige Aushandlung statt.

Was sind aktuelle Betätigungsfelder Ihrer Agora ?

Wir sind PartnerInnen in der EU-Initiative „New European Bauhaus“ und veranstalteten im Juni auf dem „Hafelekar“ – auf über 2.000 Metern hoch über Innsbruck – ein hochkarätiges, englischsprachiges Forum zur Frage, wie wir mit dem Schatz und Schutzgut „Boden“ umgehen möchten. Zudem schlagen wir innovative Maßnahmen vor : etwa jedes Jahr eine Handvoll EGD-Modellregionen vorzustellen, vergleichbar mit den europäischen Kulturhauptstädten. Oder ein „Aufs-Land-Semester“ nach dem Vorbild der Erasmus-Auslandssemester, da hat sich in Österreich eine Initiativgruppe unter dem Titel „Rurasmus“ gefunden. Wir stärken und internationalisieren aber auch regionale Initiativen wie das Innsbruck Nature Film Festival oder das niederösterreichische „Natur im Garten“. Das ist spannend : „Natur im Garten“ funktioniert als höchst interessantes, partizipatives, niedrigschwelliges Thema sowohl für europäische Gesellschaften als auch in der internationalen Klimadiplomatie. Denn ob am Fensterbankerl, Balkon oder im Garten – fürs Garteln begeistern sich Menschen von Wla­di­wos­tok bis Washington.

Was geben Sie regionalen Entscheidungsträ­gerInnen mit ?

Niemand schränkt regionale VisionärInnen ein, neue Vorhaben zuhause zu pilotieren und den EGD „bottom-up“, also von der Basis her, zu bereichern. Es geht im Sinne der ruralen und regionalen Innovation darum, mögliche Akzente zu setzen. Frei nach dem US-Präsidenten Kennedy : Fragen wir nicht, was Brüssel für unser Bundesland, unsere Region, unsere Gemeinde tun kann, sondern was wir hier für den europäischen Green Deal tun können.

Service

Definition „European Green Deal“: Mit dem „europäischen Grünen Deal“ (EGD) will die EU seit 2019 Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent machen und den „Übergang zu einer modernen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaft schaffen“. Dazu gehört, dass Europa bis 2050 netto keine Treibhausgase mehr ausstößt – was eine Verringerung der Emissionen um 55 % bis 2030 bedeutet. Außerdem will die Union ihr Wachstum vom Ressourcenverbrauch abkoppeln und dabei keinen Menschen und keine Region im Stich lassen. Kurzbiografie Verena Ringler: Verena Ringler ist Direktorin des unabhängigen Vereins „AGORA European Green Deal“ und des Think and Do Tanks „European Commons“ in Innsbruck. Die Strategieexpertin entwickelt und realisiert Prozesse, die die Lebensrealitäten in unseren Regionen mit der institutionellen Logik von Hauptstädten wie Brüssel, Berlin, Paris und Wien verbinden. Ringler bringt SpitzendiplomatInnen und Studierende, lokale PolitikerInnen und CEOs zusammen. Ab 2022 ist sie Helmut-Schmidt-Fellow für „Green Transition Leadership“.

Nachhaltigkeit, Vorbild Land

Nachhaltigkeitspolitik strebt zukunftsgerichtet und auf allen Ebenen Ausgewogenheit zwischen ökonomischen, sozialen und ökologischen Aspekten an.

weitere Infos

Downloads

PDF

Energie in Niederösterreich: Statusbericht 2023 (PDF, 650kB)

PDF

NÖ Klima- und Energieprogramm 2030: Statusbericht 2023 (PDF, 2,4MB)

PDF

SDG Indikatorenset auf Bundeslandebene NÖ (PDF)

PDF

SDG Indikatorenset auf Bundeslandebene NÖ (CSV)

Magazin bestellenImpressumDatenschutzBarrierefreiheitKontakt
nach oben
Emas Logo

© 2022 Amt der NÖ Landesregierung