Menschen im Land

„Zuwendung macht den Zusammenhalt aus“

Hannes Ziselsberger, Direktor der Caritas Niederösterreich, über Nachbarn, Gehälter in der Pflege und die Illusion der Unabhängigkeit.

Bild von Hannes Ziselsberger, Direktor der Caritas Niederösterreich.

„Es muss sich niemand schämen dafür, auf jemand angewiesen zu sein“, sagt Caritas NÖ-­Direktor ­Ziselsberger.

Quelle: © Ursula Röck

Welche Bedeutung hat der soziale ­Zusammenhalt in Zeiten des Wandels aus Ihrer Sicht?

Es ist ganz einfach : Wir sind als Wesen alle voneinander abhängig. Wir sind nicht in der Lage, ganz auf uns selbst gestellt zu leben. In zwei Situationen merkt man das ganz besonders : am Beginn und am Ende des Lebens. Das ist mir jetzt gerade durch meine Tochter wieder sehr klar geworden – sie schreibt gerade an ihrer Bachelor-Arbeit, um Hebamme zu werden. Es ist völlig normal, dass, wenn man zur Welt kommt, als Säugling völlig abhängig von seinem Umfeld ist, das in vielen Fällen zum Glück ein sehr positives ist.

Wodurch entsteht dieser Zusammenhalt, wenn er nicht von Haus aus empfunden wird?

In meinem Fall kann ich eine Geschichte dazu erzählen : Ich habe drei ältere Geschwister und eine jüngere Schwester und als ich als viertes Kind zur Welt kam, hatten wir ein kinderloses älteres Ehepaar als Nachbarn, die sagten : „Des is‘ jetzt unserer !“ Die haben mich „still adoptiert“. Ich war also in meiner Familie zuhause und bei diesen Nachbarn auch. Dort habe ich noch zusätzlich zur Familie ganz viel an Zuneigung und Vertrauen geschenkt bekommen. Was ich damit sagen will : Zuwendung und Zuneigung zu schenken macht den Zusammenhalt aus. In der Caritas erleben wir diesen Bedarf auch am Ende des Lebens. Wenn Menschen im Alter Pflege und Zuwendung benötigen, wird das derzeit stark in Institutionen verschoben, in Pflegeheime oder stationäre Hospize. Wir gehen beispielsweise mit unserem mobilen Hospizdienst bewusst zu Menschen nach Hause. Wie gesagt : Am empfindlichsten und sensibelsten sind wir am Beginn und am Ende des Lebens. Einer der großen Irrtümer ist, dass wir dazwischen glauben, dass wir selbstständig und autonom sind. 

Illustration zu würdevollen Begegnungen und Kontakt.
„Man muss nicht die Welt als Ganzes retten, sondern dort, wo wir gerade sind, wo wir Begegnungen und Kontakt haben, lassen sich diese respektvoll und würdevoll gestalten.“

Wie meinen Sie das?

Ich denke, es war Martin Buber, der gesagt hat : „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Nur durch die Begegnung werden wir zu Menschen. Dass jeder nur für sich selbst Verantwortung trägt, ist ein Irrtum. In der Caritas erleben wir das in unterschiedlichsten Bereichen : ob wir Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen begleiten, Menschen, die an psychischen Krankheiten leiden und sich deshalb zurückziehen, bei Älteren am Lebensende. Als Gesellschaft können wir uns diesen Zusammenhalt gegenseitig schenken, wenn wir einsehen, dass kein Mensch für sich alleine glücklich werden kann. Man muss nicht die Welt als Ganzes retten, sondern dort, wo wir gerade sind, wo wir Begegnungen und Kontakte haben, lassen sich diese respektvoll und würdevoll gestalten.

Sehen Sie hier unterschiedliche Auswirkungen auf Frauen und Männer ? Ist aufgrund geschlechtertypischer Rollen zu differenzieren?

Männer und Frauen können gleichermaßen sehr wertschätzend füreinander da sein. Das hat für mich wenig mit dem biologischen Geschlecht zu tun, das wir alle in uns tragen, oft eindeutig, manchmal weniger eindeutig. Gesellschaftlich ist die Fürsorge noch meist bei den Müttern verankert, das Hinausorientierte bei den Vätern. Aber das löst sich meiner Erfahrung nach teilweise auf. Und es soll uns Männer nicht hindern oder hemmen, uns auch sozial oder in der Pflege zu engagieren. In einem ORF-Interview durfte ich vor ein paar Jahren dazu aufrufen, dass auch Männer in der Pflege gewollt sind. Bei der nächsten Weihnachtsfeier sprach mich ein Mann an : Er hatte mich im Fernsehen gesehen, hat sich daraufhin mit über 50 beruflich verändert und ist jetzt als Heimhelfer in der Hauskrankenpflege tätig. 

Balkendiagramm: Anteil der Vollzeitäquivalent-Beschäftigten in Betreuungs- und Pflegediensten an der Gesamtbeschäftigung, 2022

Anteil der Vollzeitäquivalent-Beschäftigten in Betreuungs- und Pflegediensten an der Gesamtbeschäftigung, 2022

Quelle: Statistik Austria, 2023

Balkendiagramm: Versorgungsgrade : Betreute und ­gepflegte Personen zum ­Jahresende, 2022

Versorgungsgrade : Betreute und ­gepflegte Personen zum ­Jahresende, 2022 / Der Grad der Versorgung bemisst den Anteil der betreuten und gepflegten Personen an der Zahl der Pflegegeldbezieherinnen und Pflegegeldbezieher

Quelle: Statistik Austria, 2023

Aber gibt es im Pflegebereich, in dem viele Frauen beschäftigt sind, nicht eine gesellschaftliche Diskrepanz, die sich durch weniger Anerkennung und geringere Vergütung ausdrückt?

Das biologische Geschlecht sollte nicht als Rechtfertigung für Herrschaftsstrukturen angesehen werden. Das kann man unserer Gesellschaft vorwerfen. Da haben Sie in mir jemanden, der sagt : Das ist schade. Das biologische Geschlecht ist für vieles zuständig, aber nicht dafür, wer mehr verdienen soll. Pflegeberufe gelten landläufig als Frauenberufe. Vom Verdienst her ist der Einstieg für diplomierte Pflegekräfte bei der Caritas aber gar nicht so schlecht, bei etwa € 3200,– Euro brutto. Was aber schon der Fall ist : Wir stellen den Pflegebereich häufig schlechter dar, als er ist. Wir haben voriges Jahr eine Mitarbeiter- und Mitarbeiterinnenbefragung gemacht, das machen wir etwa alle drei Jahre : Da gab es auch in der Pflege ein hohes Zufriedenheitsgefühl, die Pflegekräfte fühlen sich gut qualifiziert, empfinden eine Gebundenheit gegenüber der Caritas und würden die Caritas als Dienstgeber weiterempfehlen 

Umgekehrt gibt es ja auch viele ­Mitarbeitende, die freiwillig für die Caritas da sind : ehrenamtlich Mitarbeitende. Wie wird das Ehrenamt in Ihrer Institution gelebt? 

Wir haben 2500 hauptamtlich Mitarbeitende in der Diözese St. Pölten und etwa 1000 regelmäßig ehrenamtlich Tätige. Viele unserer Aufgaben, zum Beispiel die Betreuung von Menschen mit Behinderungen, müssen natürlich auch ohne Ehrenamtliche sichergestellt sein. Aber etwa unser mobiler Hospizdienst wird nur von Ehrenamtlichen getragen : Da gehen wir zu Menschen, die wissen, dass sie aufgrund einer Erkrankung sterben werden, dass ihr Leben innerhalb von Wochen oder Monaten zu Ende geht. Dort sind beispielsweise Ehrenamtliche tätig, die sich vorher einer mehrere Wochenenden dauernden Ausbildung unterziehen. Sie sind dann da, um nächste Angehörige zu entlasten, die dann ein paar Stunden für sich sein können, wenn der Hospizdienst kommt. Wir sind sehr dankbar für solche Menschen, die sich auf die Ausbildung zur Sterbebegleitung einlassen. Und die Idee dazu baut wieder auf dem sozialen Zusammenhalt auf. 

Wer sind die Ehrenamtlichen der Caritas?

Für viele, die im Erwerbsleben stehen, also zwischen 20 und 60/65 Jahre alt sind, ist es schwierig, sich darüber hinaus zu engagieren. Wir haben daher sehr gute Erfahrung mit Jüngeren, die etwa neben dem Studium in einem Lerncafé mitarbeiten, um anderen jungen Menschen Chancen zu eröffnen. Und dann gibt es eine große Zahl ehrenamtlich Mitarbeitender, die sich am Beginn des Pensionistinnen- oder Pensionistenlebens befinden. Die stehen noch voll im Leben, sind durch die Pension abgesichert, und bereit, etwas Sinnvolles zu tun. Sie unterstützen uns im Pflegebereich, aber etwa auch bei der Betreuung von Menschen mit Behinderungen und können Außertourliches einbringen, etwa Ausflüge oder Spielenachmittage gestalten. Ein großes Danke auch an diese Personengruppe.

Balkendiagramm: Beteiligungsquote formelle ­Freiwilligentätigkeit nach Bundesland

Beteiligungsquote formelle ­Freiwilligentätigkeit nach Bundesland (in %)

Quelle: Statistik Austria, 2023

Balkendiagramm: Aufgaben in der Organisation – Verteilung nach Geschlecht.

Aufgaben in der Organisation – Verteilung nach Geschlecht (Gesamt Ö)

Quelle: Statistik Austria, 2023

Wie blicken Sie auf unsere älter werdende Gesellschaft?

Auch im Alter gibt es noch einmal drei Lebensphasen : die „junge“ Pension, dann eine Phase, in der man merkt, dass die Kräfte nachlassen, und die Hochaltrigkeit, in der man selbst angewiesen ist auf Hilfe und Unterstützung. Ich denke, dass es wichtig ist, das zu erkennen – auch für die gesellschaftliche Zukunft : Erst können viele sich noch gut einbringen, etwa auch mit den Enkelkindern. Aber wie gestaltet sich ihr Leben um, wenn sie nicht mehr alles selbst machen können ? Das muss man auch annehmen können : diese Abhängigkeit, wenn man sich zum Beispiel selbst nicht mehr eincremen kann, weil die Haut durch den Alterungsprozess anfällig wird oder die Knie oder die Schultern schmerzen und man nicht überall hinkommt, um sich zu pflegen. Was wir als Gesellschaft lernen müssen, ist : Ich bring mich für andere ein, ich darf aber auch Hilfe annehmen. Es muss sich niemand schämen dafür, auf jemand angewiesen zu sein. 

Sie haben selbst lange mit Menschen mit Behinderungen gearbeitet. Wie schafft eine/einer diesen Einsatz, etwa auch im Hospizdienst, von dem viele glauben, eine solche Arbeit müsse „deprimieren“?

Jedes Leben ist endlich. Ich bin Christ und glaube an ein Leben nach dem Tod, aber das Leben vor dem Tod hat ein Ende. Das ist in einer Welt voller Ungerechtigkeit ja auch durchaus gerecht : Alles Leben ist endlich. Am besten ist die Begleitung von Sterbenden auszuhalten, wenn man sich auf diese Tatsache einlässt. Denn dann entstehen plötzlich Beziehungen und Begegnungen. Und die können auch mit Menschen kurz vor dem Tod fröhlich sein, dann entstehen auch lustige Situationen. Wenn man schon weiß, dass es zu Ende geht, kann man gewisse Dinge sehr entspannt sehen, man muss etwa nichts fertigbringen, muss keine Maske aufsetzen. Es geht darum, den Moment auszukosten, der noch da ist. Wenn es gelingt, Menschen zu ermöglichen, dass sie das Gefühl haben : mit ihm oder ihr kann ich alles aussprechen – oder gerade auch : nichts sagen –, dann wird das gut aushaltbar. 

Was konkret tun ihre Mitarbeitenden im Hospizdienst?

Manchmal reicht es einfach, da zu sein. Zu zeigen : „Ich verstehe, dass es dir nicht gut geht, aber ich bleibe trotzdem da. Ich halte das mit dir aus.“ Umgekehrt führt aus meiner Sicht falsch verstandenes Mitleid dazu, dass man heute – Stichwort „Sterbehilfe“ – Todeswünsche erfüllt, die vielleicht da sind. Damit verhindert man aber auch jeden guten Moment, der noch kommen könnte. Mein Bild ist : Menschen so zu begleiten, dass sie gut palliativ und schmerzmedizinisch versorgt sterben können. 

Bei manchen von uns stellt sich angesichts der welt- und klimapolitischen Lage eine Zukunftsangst ein. Ist da sozialer Zusammenhalt, bewusste Care-Arbeit vielleicht auch gesellschaftlich ein „Gegenmittel“?

Der Schriftsteller George Saunders sagte : „Wir leben in seltsamen Zeiten, die auch Angst machen können und Verunsicherung schaffen. Wir können als menschliche Gesellschaft darauf mit Ausgrenzung, mit Gewalt oder Hass reagieren. Oder wir versuchen es mit Zuwendung, Respekt, Vertrauen, Liebe.“ Ich finde, das ist ein wunderschöner Gedanke. Wir haben den Klimawandel, demokratische Herausforderungen, Migration. Die beschäftigen uns und auch die Psyche. Aber die Antwort kann nur sein, dass wir einander mehr Zuwendung und Wertschätzung schenken und vertrauensvoll miteinander umgehen. Für uns Menschen wäre es jedenfalls die gesündere und langfristig klügere Vorgangsweise, füreinander da zu sein.

Service

Seit September 2016 ist Hannes Ziselsberger Direktor der Caritas der Diözese St. Pölten. Er spricht sich im Sinne der „Laudato si'“-Botschaft von Papst Franziskus für eine internationale und ökologische Solidarität aus. Der Vater von vier Kindern lebt in Herzogenburg. Er studierte Betriebswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien und Soziale Arbeit an der Fachhochschule St. Pölten. Bis 2008 war er für eine Einrichtung der Caritas der Erzdiözese Wien für Menschen mit Behinderungen in Retz zuständig, danach war er Geschäftsführer im „Verein Wohnen“ in St. Pölten.

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